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Porträt von Ottilia Waser (OG Siders)

DIE SPÄTBERUFENE

Die Siderserin war fast 45 Jahre alt, als sie die ersten grossen Berge bestieg. Ihre Leidenschaft wuchs schnell. Und fand auch kein Ende nach einem schweren Unfall. Ottilia stürzte vor sieben Jahren in den französischen Alpen mehrere hundert Meter ab - und geht heute dennoch wieder in die Berge.

Ottilia Waser ist eine elegante Erscheinung. Trifft man sie zum Kaffee in der Stadt, sitzt man einer zierlichen Frau gegenüber, die jünger aussieht, als ihre 64 Jahre vermuten liessen. Sie trägt einen geblümten Blazer, Perlenohrringe und ist dezent geschminkt. Wäre da nicht der deutliche Abdruck der Sonnenbrille im Gesicht, man käme wohl kaum auf die Idee, eine Bergsteigerin vor sich zu haben. Dabei hat Ottilia Waser mehr grosse Touren gemacht als die meisten anderen Frauen in ihrem Alter. Von den zahlreichen Teilnahmen an Berg- und Skitourenrennen ganz zu schweigen.

Am Anfang war der Laufsport
Die Büroangestellte ist mit ihren drei Schwestern in Siders aufgewachsen. Als junge Frau heiratete sie einen Banker, gründete eine Familie und wohnte viele Jahre im Ausland. Durch die Arbeit ihres Ex-Mannes kam Ottilia Waser weit herum. Sie lebte erst in Lausanne, Genf und Basel, später in London, Luxemburg und New York. Während ihrem Auslandaufenthalt begann sie, immer mehr Sport zu treiben. „Mir war so langweilig, dass ich anfing zu rennen“, erzählt sie. Bei ein bisschen rennen blieb es allerdings nicht: Sie absolvierte unter anderem mehrere Marathons, auch den von New York.

Ihre grosse Leidenschaft aber gehörte schon bald dem Berglauf Sierre-Zinal. Jedes Jahr im August reiste sie dafür in ihre Heimat. Und selbstverständlich blieb sie auch dabei, als sie 1986 wieder für immer ins Wallis zurückkehrte. 21 Mal insgesamt nahm Ottilia Waser am legendären Bergrennen teil. Damit ist sie die mit Abstand Sportlichste bei den Wasers. „Meine beiden Söhne sagen immer ‚Maman, elle fait du Sport pour toute la famille‘“, lacht sie. Dass sie im Gespräch mehrmals zwischen den beiden Sprachen hin und her wechselt liegt daran, dass Ottilia deutscher Muttersprache ist, mit ihrer Familie und im Alltag aber mehrheitlich französisch spricht.

 

Zum Bergsport kam die ambitionierte Läuferin auch durch Sierre-Zinal. „Ich war fasziniert von den wunderschönen Bergen, die man auf der Strecke sieht.“ Die Aussicht auf „La Couronne Impériale“ Weisshorn, Zinalrothorn, Obergabelhorn, Dent Blanche und Matterhorn beeindruckte Ottilia Waser derart, dass sie dem SAC Siders beitrat, um diese Berge alle selbst besteigen zu können. So kam es, dass sie mit 45 Jahren vom Bergvirus angesteckt wurde.

Die Frauenseilschaft
Kaum im Verein, engagierte sie sich auch schon im Vorstand: Sechs Jahre als Kassiererin und nochmals so lange als Präsidentin. Sie absolvierte die Tourenleiterausbildung und bestieg Sommer und Winter Berg um Berg. Viele davon mit ihrer Freundin Michelle Gillioz, bis heute ihre treuste Begleiterin. Sie war es auch, die Ottilia damals für ein Mitmachen im SAC motivieren konnte. Und die der Grund ist, dass sie bis heute regelmässig Touren führt: Im Winter Skitouren, im Sommer Wanderungen. In der vergangenen Wintersaison etwa führte die Siderserin eine Gruppe durch das Valle Maira im Piemont.

Sie geht gerne voraus, hat Freude daran, anderen ihre Passion für die Berge weiterzugeben. Und auch, weniger erfahrene Frauen und Männer anzuleiten. Allerdings verlangt sie ihren Begleiterinnen und Begleitern auch einiges ab: „Avec Ottilia, il faut marcher“, sagt sie mit einem feinen Lächeln. Wenig verwunderlich bei dieser Frau, die in den letzten Jahren über 40 Viertausender in den Alpen bestiegen hat und die mehrmals die grosse und kleine Strecke der Patrouille des Glaciers gelaufen ist. Vom Wettkampfsport hat sie mit 64 Jahren Abstand genommen. Dass sie seit einigen Jahren nicht mehr klettert, hat allerdings nichts mit ihrem Alter zu tun. Sondern mit einem schweren Unfall.

Der verhängnisvolle 19. August 2006
Im August vor sieben Jahren war Ottilia Waser mit dem SAC Siders am Mont Blanc de Tacul unterwegs. Acht Kollegen waren dabei, als es im Abstieg zu einem folgenschweren Unglück kam. Die Erinnerung an diesen Tag hat sich tief eingeprägt. Schon der Aufstieg sei mühsam gewesen bei schlechter Sicht und schwierigen Schneeverhältnissen: „Wir machten zwei Schritte vor und einen zurück.“ Im Abstieg ging sie in der ersten Seilschaft der SAC-Gruppe, mit einer Kollegin und einem Bergführer. Hinter ihren zwei Franzosen, mit denen sich Ottilia unterwegs immer wieder unterhalten hatte.

Kurz nachdem der Bergführer das Seil zwischen den Frauen und sich verlängert hatte, gab es einen Knall. Ein Schneebrett hatte sich gelöst und Ottilia und ihre Seilschaft stürzten mehrere hundert Meter in die Tiefe. Nur mit viel Glück überlebten alle Seilpartner, allerdings verletzt. Ottilia Waser hatte vier gebrochene Rippen, die Wirbelsäule war angebrochen. „Ich hatte einen Schock. Im Spital meinten sie erst, ich sei gelähmt.“ Erst später erfuhr sie, dass die beiden Franzosen hinter ihr nicht überlebt hatten. Die sonst so quirlige Frau musste lange im Spitalbett ausharren. Ein harter Moment.

Heute spüre sie körperlich nicht mehr viel, sagt sie. Spurlos ging der Unfall dennoch nicht an ihr vorüber: Ottilia hat aufgehört mit den grossen und technischen Hochtouren, dort fühlt sie sich nicht mehr sicher. Bei schlechter Sicht beschleicht sie noch heute ein ungutes Gefühl. Das Unglück hatte auch Folgen für die Ortsgruppe Siders. „Wir haben es heute viel schwerer, Tourenleiter zu finden, die Verantwortung übernehmen wollen“, bedauert Ottila Waser. Einige, die beim Unfall im August 2006 dabei waren, bleiben den Bergen bis heute fern.

Für Ottilia war aufhören nie eine Option, auch wenn ihre Söhne und ihre Freunde anfangs wenig Verständnis hatten dafür. „Sie sagen mir ‚C’est la folie‘ – aber was soll ich tun? Ich kann doch nicht zuhause sitzen“, sagt sie energisch. Das muss sie auch nicht. Die Berge begleiten sie weiterhin, einfach ein wenig weniger intensiv als noch vor ein paar Jahren. Sogar wenn sie arbeitet, ist sie ihren Bergen ganz nahe: Ottilia Waser ist verantwortlich für die Buchhaltung im Hotel Weisshorn, dem historischen Hotel hoch über dem Val d‘ Anniviers. Nichts könnte besser zu ihr passen als dieser Arbeitsplatz an ihrer liebsten Laufstrecke, umgeben von fünf majestätischen Viertausendern. Kein Wunder, will die 64-jährige Frau von Pensionierung nichts wissen….

Priska Dellberg Chanton